Sonntag, 24. November 2013

Geschichten aus dem KiGo

Die Lebensuhr

von Corinna Seeberger

Es ist Sonntag. Sonntag, der 05.03., der Tag von Jakobs sechstem Geburtstag. Wie jedes Jahr fährt er zusammen mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester am Nachmittag seines Geburtstags zu seinen Großeltern. Dort gibt es den besten Marmorkuchen der Welt – von seiner Oma selbstgebacken – und dazu eine heiße Schokolade. Darauf freut sich Jakob jedes Mal. Danach darf er immer bei seinem Opa auf dem Schoß sitzen, er erzählt ihm dann wilde Abenteuergeschichten, während Jakob sein Geburtstagsgeschenk auspackt. Dieses Jahr ist Jakob sehr aufgeregt – noch mehr als sonst, denn sein Opa hatte am Telephon bereits angedeutet, dass er dieses Mal etwas ganz besonderes bekommen wird. Was, das sein sollte, hatte ihm sein Opa natürlich nicht verraten wollen.
Kaum waren sie also angekommen, sprang Jakob aus dem Auto und lief eiligst auf das Haus seiner Großeltern zu. Seine Großeltern erwarteten sie bereits. Nachdem sich alle begrüßt hatten, wurde Jakob von seinem Großvater beiseite genommen. Jakob wunderte sich ein wenig und fragte deshalb: „Gibt es nicht erst Kuchen und Kakao?“ „Nein, mein Großer, zuerst müssen wir beide uns um etwas anderes kümmern. Komm mit, wir gehen in mein Arbeitszimmer.“ Etwas verwirrt folgte ihm Jakob still schweigend ins Arbeitszimmer. Dort wies ihm sein Opa einen Stuhl zu, der neben dem großen Schreibtisch stand. Sein Opa setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und zog eine Schublade auf. Ihr entnahm er eine kleine Schatulle. Diese reichte er dann Jakob. „Na los,“ sagte sein Opa „mach das Ding mal auf!“ Das ließ sich Jakob kein zweites Mal sagen, er öffnet vorsichtig die Schatulle, und daran lag eine Uhr. Es war aber keine normale Armbanduhr, wie er sie von seinen Eltern und anderen Erwachsenen her kannte. Nein, an dieser Uhr war eine lange Kette befestigt. Jakob machte einen enttäuschten Gesichtsausdruck. „Eine Uhr? Und die kann ich mir nicht mal ans Handgelenk machen. Das ist aber eine tolle Überraschung,“ dachte sich Jakob im Stillen. Aber irgendwie musste sein Opa, seine Gedanken erraten haben. Er lachte und sagte „Hahaha, so ein Gesicht muss ich wohl auch gemacht haben, als mir mein Großvater vor über 60 Jahren diese Uhr geschenkt hatte.“ Und auf einmal zog sein Opa an einer Kette, die an seinem Hosenbund befestigt war, und angelte eine Uhr aus seiner Hosentasche, die Jakob zuvor noch nie gesehen hatte. Sein Opa legte die beiden Uhren nebeneinander auf den Schreibtisch und fragte Jakob: „Na, fällt Dir was auf?“ Jakob nahm die beiden Uhren genauer unter die Lupe, und tatsächlich, in einer Sache schienen sich beide Uhren, die ansonsten total gleich aussahen, zu unterscheiden. Die Zeigen der Uhr seines Opas liefen viel, viel schneller im Kreis als die Zeiger seiner eigenen Uhr, diese schienen dagegen kaum vom Fleck zu kommen. „Mhm,“ sagte Jakob „irgendwie sind meine Zeiger wohl kaputt.“ „Wusst ich’s doch, dass dir das auffällt,“ sagte sein Opa und klopfte ihm dabei mit seiner großen Hand auf die Schulter. „Weißt Du, Jakob, diese beiden Uhren sind keine gewöhnlichen Uhren, sie sind auch keine Armbanduhren, nein, das hier sind Lebenstaschenuhren. Jeder und jede in unserer Familie bekommt eine solche Uhr zum sechsten Geburtstag geschenkt,  sobald sie die Uhr lesen können. Wenn deine Schwester Marlene sechs Jahre alt wird, werde ich ihr auch eine solche Uhr schenken.“ „Eine Lebensuhr? Aber was hat das denn mit den Zeigern zu tun?“ „Ja,“ sagte Opa „die Zeiger zeigen nicht die richtige Stunde und Minutenzahl an, sondern die verstreichende Lebenszeit. Weißt Du, jetzt wo Du sechs Jahre alt bist, kommt es Dir wahrscheinlich so vor, als würde die Zeit kaum vergehen. Aber wenn Du einmal so alt sein wirst, wie ich dann vergeht die Zeit wie im Flug. Deine Mama hat ebenfalls eine solche Uhr und Dein Cousin Jochen auch. Ihre Uhren gehen schon ein bißchen schneller als deine aber noch lange nicht so schnell wie meine.“
„Aber was nützt mir denn so eine Uhr?“ fragte Jakob etwas verdutzt. „Tja, so eine Uhr soll dich immer wieder daran erinnern, wie kostbar unsere Lebenszeit ist hier auf Erden. Denn wenn wir einmal nicht mehr sein werden, wenn wir sterben, dann werden die Zeiger aufhören sich zu drehen. Dann bleibt die Uhr stehen. Jetzt wirst Du in dieser Uhr vielleicht noch keinen Nutzen sehen, aber je älter Du wirst, desto wichtiger wird sie für dich werden. Denk an meine Worte!“ Dann gab sein Opa Jakob einen Kuss auf die Stirn, legte Jakobs Uhr in die Schatulle zurück und überreichte sie Jakob, der sie in seine Hosetaschen gleiten ließ. „Pass gut auf sie auf!“ ermahnte ihn sein Opa, „und jetzt gibt’s endlich Kuchen und Kako.“

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